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Titel: Das Floß der Medusa
Autor: Franzobel
Verlag: Hanser Literaturverlage (zur Buchseite)
„Ein Höllenschiff, auf dem das Leben eines vernünftigen Menschen ein Albtraum war. Menschlichkeit, Moral und Würde? All das schien hier nicht zu existieren.“
Klappentext:
„18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Wie hoch ist der Preis des Überlebens?“
Le Radeau de la Méduse von Théodore Géricault (Quelle: Wikipedia)
Meinung:
Ich hatte dieses Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises entdeckt und wäre ohne diese vermutlich nie darauf aufmerksam geworden.
Es ist anders als alles, was ich bisher in diesem Bereich gelesen habe und ich habe schon einige Werke zu Schiffsunglücken und gescheiterten Entdeckerreisen in den Händen gehabt.
Zunächst ist die Erzählperspektive einzigartig: ein allwissender Erzähler aus der heutigen Zeit beginnt die Einleitung zum „Floß der Medusa“, kommentiert anfangs hier und da mit ironischen Bemerkungen, zieht sich schließlich völlig aus dem Geschehen zurück und überlässt die Agierenden und die Lesenden ihrem Schicksal.
Dieser Erzähler macht uns auf zwei Figuren aufmerksam, nämlich auf den (erfundenen) Schiffsjungen Viktor und den Arzt Savigny, auf die sich nach und nach der Fokus legt.
Da ist auf der einen Seite der junge Heranwachsende mit einem Kopf voller Träume und auf der anderen Seite der Wissenschaftler, der bereits eine Menge über das menschliche Leben in Erfahrung gebracht hat. Beiden gemein ist, dass sie über sich und den Zustand, in dem sie sich befinden, reflektieren und eine gewisse Distanz zu allem zu finden scheinen, während die übrige Schiffsbesatzung in den Strudel der Ereignisse hineingezogen wird und lediglich darauf reagiert statt zu agieren.
Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, die von Anfang an unter keinem guten Stern steht. Ungebildete Mannschaftsmitglieder, unter denen das Recht des Stärkeren gilt, elitäre Reisende, die ihr Glück im Süden suchen und eine unfähige Führungsriege bilden von vornherein eine explosive Mischung.
So verwundert es auch nicht, dass die Ereignisse komplett aus den Fugen geraten, sobald die Medusa rettungslos gestrandet ist. Was vorher noch eine einigermaßen geregelte Überfahrt war (jeder Menschenschlag lebte nach seinen eigenen Gesetzen, was in Anbetracht der Enge mal besser und mal schlechter funktionierte), wurde in beängstigender Geschwindigkeit zu einer Gewaltorgie.
Hier hebt sich das Buch von weiteren Romanen dieser Art ab: sehr detailliert und graphisch schildert Franzobel die Grausamkeiten, beginnend mit der Eingewöhnungszeit des jungen Viktors als Teil der erbarmungslosen Besatzung, über das Verlassen des gekenterten Schiffes bis natürlich hin zu den Gräueltaten auf dem Floß.
Was Théodore Géricault mit Farbe und Pinsel eindrücklich dargestellt hat, erschafft der Autor mit Worten. Die Bilder, die er im Leser erzeugt, sind sehr, sehr deutlich, eindrücklich und verstörend. Sie verfolgten mich bis in den Schlaf und blitzen auch tagsüber immer wieder in meinem Kopf auf (ans Essen war beim Lesen übrigens auch nicht zu denken).
Ich habe in anderen Rezensionen immer wieder etwas von einem „fehlenden moralischen Kompass“ gelesen und der Unfähigkeit des Kapitäns, der die Situation nicht nur herbeiführte, sondern sogar verschlimmerte. Ich stimme darin überein, dass man ihm, der das Kommando hatte, die Schuld am Unglück geben muss, aber alles, was danach folgte, war kaum aufzuhalten. Es hätte eines sehr starken Charakters gebraucht, um diese Situation zu lenken. Es ging um Leben und Tod – hier drängen sich alle Instinkte, die der Mensch noch hat, in den Vordergrund. Der Körper übernimmt das Ruder, der Verstand muss sich beugen und tut er es nicht, ist entweder der Körper kräftig genug, diesen Zustand zu überstehen oder er ist dem Untergang geweiht.
Moral funktioniert meiner Meinung nach nur dort, wo man sich keinerlei Gedanken darüber machen muss, ob man beim nächsten Augenzwinkern noch existiert oder das Zeitliche segnet.
Zur Moral ist auch nur derjenige fähig, der über sein Tun reflektiert, der genug Bildung genossen hat, um bewusst zu handeln statt sich seinen Neigungen hinzugeben. Moral erfordert Verstand und Disziplin – und ideale Umgebungsbedingungen und kein sinkendes Boot.
Ein moralischer Kompass konnte hier gar nicht greifen, dazu war die Lage zu extrem, die Gemeinschaft zu unterschiedlich. Es ist ein tragisches Ereignis, was sich hier abgespielt hat, aber es ist kein Zeichen für den Untergang der Menschlichkeit in Zeiten großer Not.
Es gäbe noch viele Aspekte, die ich in meiner Rezension erwähnen und diskutieren könnte, doch es mus sich jeder sein eigenes Bild machen und die Erzählung auf sich wirken lassen.
„Das Floß der Medusa“ ist ein Meisterwerk der Literatur, ein mächtiges Schauspiel und eine Darbietung dessen, was Wörter zu können vermögen, werden sie nur richtig eingesetzt.
Mir ist das Hardcover zu teuer, ich hoffe, ich bekomme es in der Bücherei :-)