Titel: Stella | Autor: Takis Würger | Verlag: Hanser
Inhalt:
„Es ist 1942. Friedrich, ein stiller junger Mann, kommt vom Genfer See nach Berlin. In einer Kunstschule trifft er Kristin. Sie nimmt Friedrich mit in die geheimen Jazzclubs. Sie trinkt Kognak mit ihm und gibt ihm seinen ersten Kuss. Bei ihr kann er sich einbilden, der Krieg sei weit weg. Eines Morgens klopft Kristin an seine Tür, verletzt, mit Striemen im Gesicht: „Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.“ Sie heißt Stella und ist Jüdin. Die Gestapo hat sie enttarnt und zwingt sie zu einem unmenschlichen Pakt: Wird sie, um ihre Familie zu retten, untergetauchte Juden denunzieren? Eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht – über die Entscheidung, sich selbst zu verraten oder seine Liebe.“
Meine Gedanken zum Buch:
Selten greife ich zu einem Buch, das Feuilletons kontrovers diskutiert wird und noch seltener zu einer Geschichte aus der Kriegszeit. Doch bei „Stella“ wurde ich neugierig, insbesondere als die Erben der publizistischen Persönlichkeitsrechte von Stella Goldschlag forderten, Stellen in diesem Roman schwärzen zu lassen. So etwas passiert nur noch ausgesprochen selten und ich wollte mir selbst ein Bild machen.
Das zentrale Thema
Der Titel will uns weismachen, diese Erzählung handle von der historischen Figur Stella Goldschlag, zumal auch ihr Antlitz auf dem Cover abgedruckt ist.
Doch eigentlich steht hier etwas ganz anderes im Vordergrund. Alles dreht sich um die Frage „Was ist Wahrheit?“ oder „Wann wird etwas zu einer Lüge?“.
Würger greift diese Thematik schon sehr früh auf, als sein Protagonist sich zu einem Dummjungenstreich bekennt und dabei feststellen muss: „Manchmal tut es weh, wenn man das Richtige tut“ (S. 23).
Im Laufe seiner stetigen Suche nach Wahrheit („Jemand muss die Gerüchte von der Wirklichkeit trennen“, S. 34) begegnet Fritz unterschiedlichen Facetten der Realität. Er lernt junge Leute im Krieg kennen, die nach das Verbotene kosten und tagsüber Teil der Gewaltmaschinerie sind. Er beobachtet sein eigenes Tun mit Verwunderung („Ich fragte mich, warum ich den Degen in die falsche Hand genommen hatte und ob das eine Lüge war“, S. 75) und lernt schließlich Stella kennen, eine Frau voller Widersprüche, die er in seiner Naivität und Unbefangenheit jedoch erst sehr spät entdeckt.
Letzten Endes gelangt Fritz zu der deprimierenden Einsicht: „Das Leben formt uns zu Lügnern“ (S. 208).
Diese These wird gestützt von der zweiten Hauptfigur…
Stella
An Stella stoßen sich seit jeher die Geister, fragt man sich doch, wie sie als Jüdin die eigenen Leute verraten konnte, selbst als die Situation, die sie dazu gezwungen hatte, vorüber war.
Aber diese Frau lernen wir in diesem Buch gar nicht gut genug kennen, um ums eine Meinung über sie bilden zu können. Wir sehen sie vielmehr durch die rosarote Brille von Friedrich, dessen erste große Liebe sie wohl sein dürfte und dessen Leichtgläubigkeit das Bild von ihr stark verklärt.
Die reale Person Stella Goldschlag wird hier allerhöchstens angedeutet. Wir sehen eine mögliche Version einer möglichen Liebesbeziehung inmitten eines Krieges.
Nun kreidet man dem Autor genau aus diesem Grund an, er habe die Schuldfrage heruntergespielt, was er in Interviews jedoch weit von sich weist.
Problematisch ist allerdings, dass er sich eines erzählerischen Mittels bedient, das genau diese Gefahr heraufbeschwört.
Fakt und Fiktion
Takis Würger vermischt in „Stella“ konsequent Fakten mit Fiktion, beginnend mit dem Cover, dem Setting und schließlich der Erwähnung tatsächlich stattgefundener Ereignisse und Auszügen aus real existierenden Akten.
Eigentlich hat Würger so sein eigenes Genre erschaffen.
Was man üblicherweise bislang aus der Literatur oder auch dem Film kennt, entstammt in erster Linie dem SciFi-Bereich, nennt sich „Alternate History“ und stellt sehr deutlich erkennbar ein Gedankenspiel dar: Was wäre passiert, hätte sich die Geschichte anders entwickelt?
Hier gibt es zwar eine Anlehnung an Fakten, die aber eine eher symbolhafte Rolle spielen. Das Verhältnis von Fakten zu Fiktion fällt zugunsten der Fiktion aus.
„Stella“ ist ein recht kurzer Roman, in den so viele Fakten verwoben werden, dass das Verhältnis zur Fiktion ins Wanken gerät.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass so viele LeserInnen nun die „falsche Darstellung der Realität“ anmahnen und die Figur Friedrich mit der Person des Autors gleichsetzen.
Würger ist mit diesem erzählerischen Mittel ein großes Wagnis eingegangen, sollte man als Schreibender doch stets darauf achten, dass die erschaffene Welt in sich stimmig ist. Hier bewegt sie sich zu nah an der Welt des Lesenden und unterliegt deswegen nicht mehr unbedingt der fiktiven sondern eher der realen Logik.
Diese schriftstellerische Entscheidung wurde folglich zum Auslöser der öffentlichen Diskussion über „Stella“ – Fakten und Fiktion lassen sich für die LeserInnen nicht klar voneinander trennen und das gesamte „Kunstwerk“ wird nun infrage gestellt.
Alles andere
Man mag den erzählerischen Kniff „ungeschickt“ oder Marketing“ nennen, er lenkt letzten Endes jedenfalls genug davon ab, dass der fiktionale Teil der Erzählung an so einigen Schwächen leidet.
Wieso, beispielsweise, erfahren wir vom besonderen Geruchssinn von Friedrich, wenn das überhaupt keine Rolle in der weiteren Geschichte spielt?
Warum nimmt die Kindheit des Protagonisten einen so großen Teil ein, wenn auch so genügend zur Geltung kommt, dass Fritz gutgläubig und naiv ist?
Wieso treten zwei behinderte Kinder auf, die am Rande erwähnt werden?
Sehr viele dieser Erscheinungen sollen vermutlich Symbole für den Charakter oder die Situation des Protagonisten sein, wirken aber im Zusammenhang mit einer verkünstelten Sprache insgesamt zu überladen.
Weder Friedrich noch Stella haben am Ende etwas aus ihrer Beziehung gelernt oder mitgenommen, sie trennen sich so schnell wie sie sich begegneten, sodass es eigentlich nur eine bedeutungslose Liebesgeschichte vor bedeutsamer Kulisse ist.
Mein Fazit
„Stella“ von Takis Würger ist definitiv kein Buch, das man gelesen haben muss, wenngleich die Thematik „Wahrheit und Lüge“ interessant behandelt wurde.
Eine sehr gut geschriebene Rezension!
Vielen Dank! Die war mir auch sehr wichtig, weil ich auf den Buchblogs noch nicht so oft auf „Stella“ gestoßen bin und mir kein richtiges Bild davon machen konnte.